Dies
kann keine umfassende Abhandlung mit theoretisch-wissenschaftlichem Anspruch
sein, da dazu die zeitlichen und quantitativen Voraussetzungen einer großen
Auswahl von Personen fehlen. Eine Darstellung von eventuellen Sprachtypen oder
gar eine Tabellierung der Fragen und Antworten kann aus ökonomischen Gründen
nicht geschehen. Ich stelle also nur eine kleine Stichprobe (aus diesjährig ca.
hundert Kindern und Jugendlichen) vor und Kurzerfahrungen der Anwendung von
Bairisch anhand einiger schwererziehbarer Schüler. Es sind keine Fallstudien.
Der Fall wird nur kurz skizziert, um den sozialen Hintergrund, die emotionale
Not und die Notwendigkeit des flexiblen Zugangs einsichtig zu machen. Dabei ist
„Bairisch“ ein zusätzliches Therapeutikum zur Wahl, um keine Mißverständnisse
eines „einseitigen“ „hybriden“ Gebrauchs und einer fachlichen Inkompetenz u.ä.
aufkommen zu lassen. Es handelt sich also um eine kleine Empirie (bzw.
Erfahrungsgrundlage) und sollte Gedanken anregen.
Im
übrigen klebt an meiner grünen Dienst-Tür eine große blaue bairische Einladung
(entnommen einer Programm-Schrift des BR)
„Do
schau her“.
Da die
Kinder und Jugendlichen oft nur in „Kürzel“( r. code) reden, geschweige denn,
mehr als einen Satz anwenden (Pisa lässt grüßen!) oder bei mehreren zuhören
(„halt mir keinen Vortrag!“...wobei ich trotz allem das Sie verlange, da das
„Du“ allein hier eher eine falsche Vertrautheit erzeugt), überlegte ich, wie
ich Antworten oder Bilder finden könnte, die einen komprimierteren-vitalen
Gefühlsinhalt (und entsprechenden Assoziations-Hof) haben, um an ihr Gefühl
ranzukommen bzw. zum Gefühlsausdruck zu animieren. Ich muß bei vielen Schülern
die übliche Dialog-Unfähigkeit überwinden, die hierzulande mit allgemeiner
Proletarisierung von Groß und Klein (incl. öffentlichem Spucken, Wegwerfen,
Rumpöbeln...) Spracharmut, Ausdruckseinfachheit und nonverbal-aggressiver
„Verständigung“ usw. einhergeht. Auch überlegte ich, eine rel.
Entspannungssituation (statt anderer Verfahren) zu schaffen, die im Gegensatz
zu den vielen Ansprachen sind, die die Kinder hatten und als „Verhöre“
interpretieren und sich von daher schon innerlich abschotten. Man muß auch
seinen Klientenstamm pflegen und halten, sonst heißt es:“ zu dem geh ich
nicht/nie mehr....“ Diese Kontaktpflege beginnt schon mit einem kurzen Gruß,
wobei ich auf das übliche nichtssagende
„Hi“ und „Hallo“ mit einem (modern gesagt) „small talk“ einsteige und
bei bestimmten komplizierten Kindern (die ich auch außerhalb der Therapie
treffe) schnell überschlagen muß, ob eine bairische Bildersprache eingebaut
wird. Jedenfalls ersetze ich den Mode-Gruß mit tageszeitlich angepassten Gruß-
und Anstandsformeln, wie sie es in Bayrisch ja gibt z.B. : „ host guat
gschlafn... Malzeit, loß das schmeckn, servus, pfiat di....host no wos
vor?....“ dies alles ist Aktivierung
der Mundart, natürlich besonders in der Therapiesituation.
Auch
halte ich dafür, dass die romanischen Sprachen und das vokalreiche schwingende
Bairisch wohl angenehmer für die Gehirnverarbeitung sein dürften (vgl.
Gehirnforschung mit Mozartmusik gegenüber einer krätzigen- technisch künstlich
hochgegeilten MG-Musik...) als z.B. eine durch die gefletschten Zähne gepresste
schwingungsarme Droh- und Wild-West-Sprache mit
inhuman-quantitativem-profitlich-technisch-mechanistischem Denken: “ne´ Menge
Geld...volle Ladung in die Visage...“ .- Zur Sprachkultur sei noch gesagt, dass
sogar in den Medien und sogen. Gutachten der Kurzsatzbau und die Gassensprache
hoffähig sind, wenn Nachrichten Sätze bringen wie „:er flog aus dem Amt“, Star
XY „wurde wegen Klauen im Markt angezeigt und haute ab“.... Wenn schon dem
Bairisch Primitivität und Hinterwäldlerisches vorgeworfen wird, sollten die
Leute ihre eigene sprachliche Unkultur und den Wortschatzmangel ( ihre
„Beschränktheit“ z.B. auf Konsum-Begriffe und Modeworte....sich erstreckend)
erst ansehen.
Fallbeispiele:
1.
Ein Großstadtkind, 9- jähriger
Bub Dave (z.Z. englischer Modename, häufig im Heim, wie das „Cavin“,- die
„Alexander“ haben wohl aufgehört) mit bayrischen Eltern, die ihn abstießen
(nahmen sich lieber ein Pflegekind dazu), ist mit sich äußerst unzufrieden,
z.B. empfindlich besonders auf seine roten irischen Haare und die helle Haut,
und redet grundsätzlich Schriftsprache und sagt z.B. beim Spicker-Spiel: „ ich
hab sie alle drei getroffen“. Erst auf meine (aktivierende) bayrische
Kommentierung zu einem Wurf „der war oba fest drin“( wobei ich seine verhaltene
Wut mitansprechen wollte), bestätigt er auf Bairisch seine Entschiedenheit: „ i
woit do eine“. Er kann auch bei anderen Gelegenheiten im Spiel auf Bayrisch
einsteigen. Als ich auf seine übertriebenen Video- PC-Games- und
Fernseh-Fantasien ( mit Weltraumkriegen,- er zeichnet mir meist
überdimensionale Angriffs-Raketen und redet in Rachefantasien von Granaten
usw....) eingehe und er diese wild bei einem Spiel einbaut, sage ich spontan
und mit m.o.m.versteckter Absicht in Bairisch: „ So a narrischa Deifi“(wobei
ich ja auch das „arme Deifi“ mitklingen lassen wollte). Er ist nicht beleidigt
, sondern sieht sich damit anschaulich getroffen und bestätigt überraschend.
„jo, i bin a narrischa Deifi“, wobei auch sein Verlassenheits-Schmerz, der ihn
wild macht, mitschwingt. Auf der hochdeutschen Zugangs-Ebene verweigerte er
immer die Arbeit an seinem Gefühl und flüchtete auf Hochdeutsch in seine
Horror-Fantasiewelten (wie sie ja den Kindern zwecks Verrohung reichlich
angeboten werden) und in falsche Romantik, z.B. wie gern ihn doch die Eltern
hätten und welches Liebesgeschenk er ihnen machen solle usw. Die Angst eines
potentiellen „Erfurter Modells“ ist in uns, ich möchte aber anderweitige und
übliche „Glücks-Pillen“ (noch?) vermeiden und alles versuchen. Auch eine
Pflegefamilie steht an usw.
2.
Ein 10-jähriger, gut
deutschsprechender, intelligent-frecher, auch teils verwahrloster
ex-jugoslawischer Bub mit einem nur gebrochen deutsch sprechenden Vater hat
grobe Verhaltensweisen (mit entsprechender US-Fäkalien-Sprache usw.) eines
(durch Videos sexualisierten) Straßenkindes (auch buchstäbliches Straßenkind,
das sich „histerisch“ mitten auf die Straße „platzt“...). Er sitzt eines Tages
mit den anderen beim Abendessen und frägt mich in Hochdeutsch wieder mal
ironisch (diesmal über das Nicht -Mc Donalds-Essen unzufrieden –lästernd), ob
ich so viel essen könne und warum mir nicht schlecht würde. Darauf frage ich
ihn, ob er mir seine Meinung nicht in Bairisch sagen könne. Er bringt darauf
ein grob-bairisches. Klischee: “hoit´s Mei, du Arschl“. Alles lacht.
Offensichtlich ruft das Essen eher eine grobe Bierzelt-Sprache hervor, auch
evtl. die Plötzlichkeit meiner Aufforderung. Später schiebt er wiedergutmachend
ein gemäßigtes Bairisch nach: „hot´s gschmeckt?“---Als er in meinem Zimmer aus
einer Schuhschachtel mit ca. 200 Farbfotografien aufgelöster Alben sucht,
findet er Sammel- Tierfotos eines Zoos : Pinguin, Giraffe, Elefant usw. Beim
Nashorn entdeckt er sofort das teilweise abgebildete Geschlechtsteil und
schreit-kichert-lacht-quietscht usw. Ich kommentiere: “I glaub, du vertrogst
des Foto net recht, des nimm i wieda, sonst machst olle in der Gruppn
narrisch.“ Er antwortet in Hochdeutsch: „ich versprech Ihnen, dass ich das
nicht mache“. Ich stell mich ungläubig-taub, so daß er in Bairisch verstärkend
sagt: “i versprech, daß i koan Blädsinn mach“ ( klingt das nicht etwas
vertrauensvoller?). War übrigens ohne doppelte Verneinung (duplex negatio...).
Seine Spässe sind öfters auf Standard-Bairisch wie „ Auf da Oim do steht a Kua, machts A-loch auf und zua“;
bei Freude sagt er öfters neben dem „Alleluia“ auch „Sacklzement“ und „leck mi
a. O.“ also eher mit derbem Bauerntheater – und Folklore-Inhalt. Er grüßt
inzwischen aber oft im netten Bairisch..
3.
Bei einem der wenigen echten
Niederbayern, der alles in Bairisch spricht, ist natürlich die Kommunikation
fließend und inzwischen herzlich. Besonders wurde er anfangs, beim ersten Treff
nach der Neuaufnahme, bei dem er sehr abweisend und quengelig-frech war, und
gleich in den ersten Minuten zur Tür ´raus wollte, mit Bayrisch locker-lässig
(heute sagt man –cool-) behandelt, besonders aus der Handwerk-Sprache, da er
mir kurz von der väterlichen Werkstatt was sagte, bzw. ´raus ließ. Seitdem
taute er schnell auf und lobte bei den Eltern (die es mir beim Elterntag sagten):
„ bei dem is wos los....der werklt ah rum....“
4. Ein sehr trotziges Münchner-Kindl T., ein 8-einhalb-jähriger
Sohn einer Alleinerzieherin, u. a. Bettnässer, Hausaufgabenverweigerer, lt.
Kameraden ein unbeliebter „Petzer“, Zerstörer von Spielsachen anderer und
Mobiliar usw., redet nur Hochdeutsch (Mutter gepflegtes-veredeltes Bairisch und
Hochdeutsch). Er selbst gibt auf meine Frage an: „Ich will nicht Bairisch
reden...weil meine Eltern es nicht tun...weil es blöd klingt wie `geh owe´ „
Der Zugang zu ihm ist oft schwierig. Um ihn zum emotionalem Reden zu provozieren, z.B. als er mit der Kugelbahn spielt, zweifle ich sein Können auf Bairisch an mit: „I glaub net, dass bei dir die Kugl richtig lauft“. Darauf antwortet er im Trotz (statt dem üblichen Hochdeutsch –„ich mag nicht...Ihr seid alle blöd...“) überraschend auf bayrisch : “ Des funktioniert, des sog I Eahna!“ Als ich ihn ein andermal auf Bairisch einiges zu seinem Einnässen fragte, bei dem die meisten Kinder emotional „zugedreht“ sind, unter anderem auch fragte, ob „es heit wieda passiered“, antwortete er offener und in Bayrisch sofort: “na, i blamier mi net !“ In einer anderen Stunde sagt er , er brauche zum Ausschneiden „an Pappadecki.“ Leider bleibt auch auf mein Bairisch „Pfiat di“ sein Gruß penetrant das „Tschüß“. Nun, ich bin froh, wenn er beim Emotionalen auf bairisch etwas erreichbarer ist, da er ja wie viele Kinder schulische, zahlreiche medizinisch-psychiatrische und heimpädagogische Belehrungen und Zurechweisungen usw. auf Hochdeutsch hört.
Bei Gutgelauntheit redet er seit neuestem bevorzugt Bairisch (vielleicht hat
doch obige Aktivierung gefruchtet): “i hob heit gwonna, i nimm rout (seine
Lieblingsfarbe)...,dea (Spielstein) muaß do hi ....“ Beim Verlieren ist er ein typischer schlechter Verlierer wie viele
Kinder, und schaltet bezeichnenderweise auf Hochdeutsch um.
5) Ein eßfreudiger-dicker ( oft Essen
bettelnder...), jähzorniger ehemaliger Förderschüler, der inzwischen mit 13
Jahren in der 6. Kl der Hauptschule ist, gemischt Hochdeutsch-Bayrisch spricht,
ein Bayer aus der oberbayrischen Inngegend wie seine Eltern ist, macht viele
Sorgen. Seit langer Zeit versuch ich, mit Bairisch an sein Gefühl ´ranzukommen,
zu dem er sich nie äußert und nach dem jeweiligen „Tobsuchtsanfall“ meist nur
bockig „ weiß nicht „ sagt.
Bei einem späteren Autobahnspiel in meinem Zimmer sieht er meine Limoflasche stehen und bettelt in Bairisch: „i hob ah an Durst“. Später bietet er in Deutsch ein „Geschäft“ an: „möchten Sie von mir eine Kugel (für die Kugelbahn) geschenkt haben?“-- Als er eine Bahn zusammen setzen soll und dies in Ungeduld nicht recht kann, sagt er geringschätzig öfters: „Des is a Graffi“.-- Beim zweiten Betteln redet er wie ein Anstands-Wauwau hochdeutsch: „bekomm ich bitte eine Nuß“ (als er die Wahlnüsse im Korb sieht). Beim gutgelaunten Abschied sagt er erst das übliche“ Tschüß“. Ich frage, ob es auch anders ginge, er antwortet übertrieben laut-pointiert: „Pfuit Di“.-- Einen winzigen Einblick in sein Gefühl, das auch aus
Rivalität zu seiner größeren, daheimgebliebenen, frech-intelligenteren
Schwester besteht, gewährte er mir mit einem kurzen Kommentar, er lerne mit ihr
Englisch „ nur zwei Sekunden“. Bis jetzt konnte er auf bairische Aktivierung
wenigstens mehr lächeln, also Lockerung und Vertrauen zeigen. Er scheint
ablehnende, („böse“) Gefühle eher in Schriftdeutsch erfahren zu haben und somit
zu bringen, da er wohl seit früher Kindheit viele teure sonderpädagogische und
psychiatrische „Maßnahmen“ hatte“ (arme Gesundheitsreform?).
6) ein
10-jähriger Österreicher bleibt seiner
Sprache treu, ohne Scheu!
Er verwendet sie allgemein (natürlich im Alltag, nicht so
sehr in der Schule). Dieser Fall (von mehreren Österreichern) wird somit nur
kurz eingeschoben, um sich ein gewisses Beispiel an Selbstbehauptung (entgegen
böswilliger ,auf die Sprache abzielender Österreicher-Witze) zu nehmen. Zwanzig
Österreicher der vielen Jahre blieben größtenteils bei ihrer Sprache.
7) einige klangmalerische emotionsgeladene Worte ehemaliger Fälle:
Ein
ehm. reichenhallerischer, verlassener Alleinerzieherin-Bub erinnert mich noch
heute nach 10 Jahren an seine bairisch komprimierte emotionale
Zustandbeschreibung, die kein anderes Kind mehr anwandte: „mia geht’s
misarabi“.
Ein anderes Wut-Kind mit Epilepsieverdacht erinnerte mich
immer mit einem fast bedrohlichen Satz an seine Stunde mit ihm, daß ich sie ja
nicht ausfallen ließe:“ werst scho seng, wer heit zu dir kummt!“ ...Jawohl! das
„U“ klingt wie ein Paukenschlag oder Schlag an die Tür.
Ein anderes Kind drückte seine Wut wegen
Lese-Rechtschreib(-Schwäche)-Training auf mich mal aus mit: „I kill di“. Das
ist Beziehungsklärung,- bairisch-englisch.
Ein depressiv reagierender Sonderschüler und Bäckerlehrling,
der u.a. das Bretzenwerfen nicht zusammenbrachte, murmelte nur noch : „i
schwoab mi ins Klo runta“. Kann man das mit einer anderen Sprache emotional
bildhafter-vitaler und komprimierter ausdrücken?
8) und 9) Ein bald 14-jähriger, rel. gut
deutsch sprechender Türke (von deutschsprechenden Eltern aus München) versteht
Bairisch, wendet es aber nicht an. Zum Schimpfen und Drohen aber, so meint er,
sage er: „wos mechst?—Sakra- so
bled....“. Er grüßt mit seinem afrikanischen Freund im Vorbeigehen verschmitzt
mit „Pfiat di“ und „Servus...“
Der 14-jährige Afrikaner J. erklärt mir, was er inzwischen mit „servus“ verbindet: „Servus, immer schön cool bleiben“. Als ich ihn zur Radwerkstatt einlade: „Jimmi, heit deama Radl richtn, mogst mitmacha?“ antwortet er lässig (kurz natürlich): „ jo, klar“. Und er „werkelte“.
Bis
jetzt bezeichnete (offen?) keiner von den ausländischen Schülern das Bayrisch
als primitiv, vielleicht abhängig von Personenbezug, Kontext und Einsatz.
..
FBSD-RUNDBRIEF NR.
50. Juni 2004 Seite 25-29