Das neue Österreichische Wörterbuch - ein Wörterbuch nur für Österreich?
von ULRICH KANZ
Das Zehnerl bleibt wohl auch nach der
Einführung des Euro nicht nur in Österreich, sondern auch in Bayern ein weit
verbreitetes Zahlungsmittel. Trotzdem ist es dem Duden keine Erwähnung wert, im
Gegensatz zum Österreichischen Wörterbuch, das nun in der 39., neu bearbeiteten
Auflage vorliegt. Seit der ersten Auflage von 1951 erhebt es den Anspruch,
"den in Österreich gebräuchlichen Wortschatz (...) für alle Fragen der Rechtschreibung,
die erfahrungsgemäß in Schule, Amt oder Büro auftauchen" zu behandeln und
"passende Lösungen" zu bieten (S. 7). Das ÖWB ist also kein
Dialektwörterbuch, sondern eines für die in Österreich übliche Hochsprache.
Aber ist ein
eigenes Wörterbuch für Österreich eigentlich nötig? Die Antwort lautet: Ja!
Denn der Duden übergeht viele österreichische und süddeutsche Varianten der
deutschen Sprache im Wortschatz, in der Wortbildung und der Lautung und
verallgemeinert norddeutsche Formen als gesamtdeutsch.
Besonders
auffällige Unterschiede zwischen dem österreichischen und dem "binnendeutschen"
Deutsch betreffen den Wortschatz. Viele Wörter kommen nur in Österreich vor, so
etwa kulinarische Ausdrücke wie Obers,
Topfenkolatsche, Powidel, Paradeiser u.a.,
aber auch typische Begriffe der österreichischen Verwaltungssprache. Wer in
Österreich die Hochschulreife ablegt, besteht die Matura, nicht das Abitur.
Schließt er das Studium ab, feiert er die Sponsion.
Ähnlich stehen sich österreichisch Typenschein, Zulassungsschein und deutsch Fahrzeugbrief, Fahrzeugschein gegenüber. Das ÖWB verzeichnet die oberdeutsche
Form Sulz als eigenes Stichwort, im
Duden ist Sulz nur als Nebenform zur Sülze aufgeführt. Wörter wie Jänner, Topfen und Marille waren
und sind z.T. noch heute in Süddeutschland üblich. Der Duden nennt sie
"landschaftlich" oder "österreichisch" und stellt sie damit
unter Januar, Quark, Aprikose. Im ÖWB
gelten Jänner, Topfen und Marille
dagegen als hochsprachlich.
Eine große Anzahl
von Wörtern kommt zwar im gesamten deutschsprachigen Gebiet vor, sie hat aber
in Österreich eine andere oder zusätzliche Bedeutung. So ist eine Aufforderung
zur Exekution nicht etwa eine
Hinrichtung, sondern "nur" eine Zwangsvollstreckung durch den Exekutor. Nicht nur in Österreich, auch
in Bayern versteht man unter einem Fuß
einen Körperteil, das von der Zehenspitze bis zur Hüfte reicht. Für das
Duden-Universalwörterbuch ist der Fuß
dagegen der "durch das Sprunggelenk mit dem Unterschenkel verbundene
unterste Teil des Beines beim Menschen u. bei Wirbeltieren", der mit
dieser Definition wie in vielen anderen Fällen die süddeutsche und
österreichische Bedeutung nicht berücksichtigt.
In vielen Fällen
gelten in Österreich wie in Deutschland dieselben gemeindeutschen Begriffe,
Unterschiede gibt es in der Wortbildung. Ein unverkennbares Merkmal des
österreichischen und des bairischen Deutsch ist die Verkleinerungssilbe -(er)l, die in manchen Wörtern zu einer
Wortbildungssilbe ohne verkleinernde Bedeutung geworden ist: Pickerl, Stockerl, Tischerl, Zuckerl. Der Duden nennt Zeisig und Zeischen, was einem süddeutschen Sprecher fremd ist, weil die
Verkleinerungsform -chen im
oberdeutschen Sprachraum nicht bodenständig ist. Die hier gebräuchliche Form -(er)l wird vom Duden einfach ignoriert.
Dagegen verzeichnet das ÖWB ganz selbstverständlich Zeiserl, auch in Wortverbindungen wie Zeiserlwagen (Duden Zeiselwagen).
Folgerichtig ist die norddeutsche Verkleinerungsform Zeischen nicht aufgeführt.
Unterschiede zur
"binnendeutschen" Aussprache sind ebenfalls in das ÖWB aufgenommen.
Natürlich ist an dieser Stelle das helle a
zu nennen, das in der österreichischen Standard- und Umgangssprache gilt und
sich vom neutralen bis dunklen a in
Deutschland deutlich unterscheidet. Im Österreichischen und im Süddeutschen
gibt es keine stimmhafte Aussprache der weichen Konsonanten. Statt des
Gegensatzes stimmhafte Lenis (weicher Laut) und stimmlose Fortis (scharfer
Laut), wie es in der deutschen Aussprachenorm des Dudens vorgesehen ist (d/t,
b/p,
g/k),
werden in Österreich und Süddeutschland alle Laute stimmlos gesprochen.
Mundartnahe Zwielaute berücksichtigt der Duden kaum, vor allem, wenn sie in
Fremdwörtern auftreten, z.B. Cocktail
[...te:l], Show [∫o:].
Süddeutsche und österreichische Sprecher kennen dagegen die Zwielaute [ei] und
[ou] und sprechen diese auch standardlautlich in Cocktail und Show. Das
ÖWB gibt zwielautende [...teıl] und [∫ou] an, die nicht nur der
englischen Lautung näher stehen, sondern auch dem Sprachgefühl oberdeutscher
Sprecher entgegen kommen. Der Duden hingegen hält engstirnig an einer Norm
fest, die das südliche und das österreichische Deutsch nicht mit einschließt.
Bedauerlicherweise
verpasst das ÖWB die Chance, grammatikalische Eigenheiten des Oberdeutschen standardsprachlich
zu verankern. Auf Seite 738 heißt es zur deutschen Sprache in Österreich:
"Der Dialekt hat eine andere Norm als die Standardsprache, daher kann eine
Form im Dialekt richtig sein, die im Standard als falsch gilt." Natürlich
ist gegen diese Aussage nichts einzuwenden, gegen das angeführte Beispiel
schon: falsch sei z.B. der Butter
(Dialekt) gegenüber die Butter
(Standard). Tatsächlich gilt für den süddeutschen Sprachraum, und zwar für
Bayern wie für Österreich, das maskuline Geschlecht ebenfalls als standardsprachlich,
überdies auch in anderen europäischen Nationalsprachen, vgl. franz. le beurre, ital. il burro. Ähnliches trifft für die
Marmelade und die Schokolade zu,
die im Oberdeutschen als das Marmelad und der Schokolad ebenfalls standardsprachlich sind. Es wäre nur folgerichtig,
im ÖWB das maskuline bzw. neutrale Geschlecht neben dem femininen im Wörterbuch
zu berücksichtigen.
Seit der
Neuregelung der deutschen Rechtschreibung im Jahr 1996 gibt es nur wenige
Unterschiede zwischen der deutschen und der österreichischen Orthographie, die
im ÖWB verzeichnet sind. Österreichische Schreibungen sind z.B. zuhause, maschinschreiben, ohneweiters,
heute Früh (statt
"binnendeutsch" zu Hause, maschinengeschrieben, ohne weiteres, heute früh).
In einem
umfangreichen Anhang folgen Erläuterungen zur Deutschen Sprache in Österreich,
zu den verschiedenen Sprachschichten und deren Verhältnis zueinander sowie zu
Wechselwirkungen zwischen den Standardsprachen in Deutschland und der Schweiz.
Vor allem durch die Wirkung der Medien, den Tourismus und enge
Wirtschaftsbeziehungen unterliegt Österreich starken Einflüssen aus
Deutschland. Umgekehrt sind Wanderungen von Austriazismen nach Deutschland
gering, wenngleich es diese durchaus gibt, z.B. Strudel, Palatschinken und andere Speisenbezeichnungen, die nur
zum Teil Eingang in den Duden gefunden haben. Weiterhin finden sich im Anhang
die für Österreich geltenden Rechtschreibregeln, eine Auflistung grammatikalischer und sprachwissenschaftlicher
Ausdrücke sowie Hinweise zu Gebrauch und Schreibung einiger Formen der Verben.
In der Summe von
Wortschatz, Intonation, Betonung, Aussprache und Schreibung hebt sich das
österreichische Deutsch vom "binnendeutschen" ab. Das ÖWB will vor
allem die "deutlich eigenständige Prägung (als) wichtiges Element der
staatlichen Identität" Österreichs (S. 746) betonen. Trotzdem sind die
Unterschiede zwischen dem österreichischen und dem "binnendeutschen"
Deutsch nicht so gravierend. Leider wird die Zahl der Stichwörter im ÖWB nicht
genannt (der Duden weist 120 000 Stichwörter auf), sicher stimmen weit
mehr als 90% davon überein.
Das ÖWB stellt
sich in die Reihe der Wörterbücher der nationalen und regionalen Varietäten
des Deutschen und anderer oberdeutscher Wörterbücher (Jakob Ebner: Wie sagt man
in Österreich?, 1998 und Ludwig Zehetner: Bairisches Deutsch, 1997). Es ist
nicht nur für Österreicher nützlich, sondern auch für bayerische Sprecher, die
auf oberdeutsche Formen in ihrem Wortschatz und ihrer Lautung Wert legen und sich
nicht allein auf den Duden und die von ihm vertretene norddeutsch orientierte
Norm verlassen wollen.
erstellt: 23. April 2002