Warum eigentlich können manche Menschen nur Mundart? Warum hören alle gern Bayerisch und niemand gern Sächsisch? Und warum hassen die Berliner die Schwaben so sehr? Eine kleine Dialektkunde
Man kann sich jetzt fragen, warum ausgerechnet die Schwaben schuld sein sollen an der Gentrifizierung des Prenzlauer Bergs, wo sich doch Norddeutsche, Rheinländer und Hessen dort bestimmt genauso breitgemacht haben. Die Antwort ist einfach: Es ist dieser Dialekt. "Wir können alles außer Hochdeutsch": Damit werben sie in Stuttgart ja sogar offiziell. Man könnte versucht sein zurückzufragen: Ja, wenn ihr alles könnt, warum denn dann nicht wenigstens Hochdeutsch? Muss es denn am Kollwitzplatz genauso klingen wie in Sindelfingen? Kann die Metropole Berlin von ihren Zuwanderern nicht ein Mindestmaß an Anpassung verlangen?
Leichter gesagt als getan, meint Professor Jürgen Erich Schmidt, Leiter des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas an der Universität Marburg und als solcher so etwas wie der deutsche Dialektpapst. "Wenn die Primärsozialisation abgeschlossen ist, ist es sehr schwer, plötzlich völlig neue Ausspracheregeln zu lernen. Da muss man nachdenken. Und manchmal hilft selbst das Nachdenken nicht." Historisch höchst ungerecht sei das, meint Schmidt, denn ursprünglich seien es die mitteldeutschen Dialekte aus Schwaben, Sachsen, Pfalz, Franken, Hessen, Thüringen gewesen, die bei der Entstehung der hochdeutschen Schriftsprache prägend gewesen seien. Für die Nordlichter mit ihrem Plattdeutsch war die neue Gemeinschaftssprache so mühsam zu erlernen wie eine Zweitsprache. "Nachdem sie das einmal konnten, war ihnen der Sprung in den alten Dialekt zu groß, und sie blieben beim Hochdeutschen", sagt Schmidt. "Im Süden war der Abstand zwischen Dialekt und Schriftsprache viel kleiner, weshalb sich der Dialekt besser erhalten konnte."
Professor Schmidt spricht aus Anschauung. Sein Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas erstellt derzeit die wohl größte deutsche Studie über Verbreitung und Ausprägung deutscher Dialekte. Mit einem Fördervolumen von 14 Millionen Euro ist das Projekt "Regionalsprache.de" (REDE) das erste geisteswissenschaftliche Grundlagenforschungsprojekt überhaupt in Deutschland. Was nur folgerichtig ist, denn immerhin ist auch der Deutsche Sprachatlas das älteste sprachwissenschaftliche Forschungsinstitut. Der Düsseldorfer Germanist Georg Wenker hat es 1876 gegründet, getrieben vom Ehrgeiz, den weltweit größten Sprachatlas zu erstellen.
Wenker (1852-1911) entwickelte schon während der Arbeit an seiner Dissertation Interesse für die räumliche Verbreitung der deutschen Dialekte. 1876 setzte er dann einen groß angelegten Plan in die Tat um: Er verschickte an alle Schulen im Rheinland einen Fragebogen mit 42 kurzen "volksthümlichen" Sätzen, die er mithilfe der Lehrer in die jeweiligen Ortsdialekte übersetzen ließ. Aus diesen Arbeiten entstand zunächst eine "Dialectkarte der nördlichen Rheinprovinz", 1878 dann der "Sprach-Atlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen", später wurde das Unternehmen auf ganz Preußen, 1887 dann auf das gesamte Deutsche Reich ausgedehnt. Seine modifizierten "Wenkersätze" werden bis heute verwendet.
Doch erst mit dem Siegeszug des Internets sind Wenkers Erkenntnisse nun auch für jeden Interessierten abrufbar. Im "Digitalen Wenkeratlas" haben die Marburger Dialektforscher sowohl Wenkers Ursprungserhebungen publiziert als auch zahllose Folgeerhebungen damit verwoben. "Jetzt können wir den Wandel der Dialekte über ein Jahrhundert hinweg exakt verfolgen", sagt Schmidt.
Für ihn die interessanteste Erkenntnis: Die Dialekte sind keineswegs nur einfach auf dem Rückzug, sie wandeln sich auch. "Bei uns in Oberhessen, wo jedes Dorf noch seinen alten Dialekt hat, da ist er seit 130 Jahren unverändert", sagt Schmidt. "Aber in der Schweiz und in Bayern ändert sich der Dialekt derzeit relativ schnell, weil er noch als Mittel der überlokalen Kommunikation intakt ist", sagt Schmidt. Nach einer Studie des Allensbach-Instituts aus dem vergangenen Jahr geben 45 Prozent der Bayern, 37 Prozent der Thüringer und Sachsen und 33 Prozent der Bewohner der Region Rhein-Main/Südwest an, "eigentlich immer" Mundart zu sprechen. In Norddeutschland und Nordrhein-Westfalen können das nur zehn Prozent von sich behaupten. "Es gibt ein klares Nord-Süd-Gefälle", sagt Schmidt.
Von einem einheitlichen Hochdeutsch konnte in Deutschland ohnehin jahrhundertelang keine Rede sein. Die einzelnen Landsmannschaften interpretierten das Schriftdeutsch buchstäblich im Munde der jeweiligen Landschaft. "Das schwäbische Hochdeutsch eines Theodor Heuss und das rheinische Hochdeutsch eines Konrad Adenauer waren im vorvergangenen Jahrhundert ganz normale feine hochdeutsche Aussprache", sagt Schmidt. Der Siegeszug der einheitlichen hochdeutschen Aussprache kam erst mit der Schaffung der Bühnensprache 1899 und mit der 1928 eingeführten einheitlichen Rundfunksprache norddeutscher Provenienz. Sie wurde nach und nach zum Maß aller Dinge.
"Weil die Schrift als Träger der Kultur das größte Prestige hatte, übertrug sich dieses Prestige auch auf die buchstabengetreue norddeutsche Aussprache", sagt Schmidt. "Irgendwann wurde das alte landschaftliche Hochdeutsch als Aussprachevariante nicht mehr akzeptiert und abgewertet." Besonders bitter habe es das "schöne alte sächsische Hochdeutsch" getroffen, sagt Schmidt mit aufrichtigem Bedauern. 54 Prozent der Deutschen können Sächsisch überhaupt nicht leiden. Der beliebteste Dialekt ist Bayerisch (35 Prozent) vor norddeutschem Platt (29), Berlinerisch (22), Schwäbisch! (20) und Rheinländisch (19), so die Untersuchung von Allensbach.
Warum gerade das Bayerische so beliebt ist, obgleich es so mancher Hannoveraner kaum verstehen dürfte, kann der Dialektforscher mit einem einfachen Phänomen erklären: Authentizität. "Wenn heute jemand Bayerisch spricht, dann sagen wir gern: Der spricht eben Dialekt. Wenn einer Sächsisch oder Pfälzisch spricht, dann sagt man: Der kann kein Hochdeutsch." Das vermeintliche Original werde eben geschätzt und bewundert wie ein besonders pittoreskes Fachwerkhaus, hat Schmidt festgestellt. "Das andere wird wahrgenommen wie gewollt und nicht gekonnt. Das ist historisch tragisch - jedenfalls für die Sachsen." Vielleicht - das zumindest wäre eine Fährte, die es zu verfolgen lohnte - liegt es auch am Selbstbewusstsein der einzelnen Landsmannschaften, wie beliebt ihre Mundart bei den anderen ist. Das Besondere des bayerischen Dialektes könne durchaus auch mit dem Sprachstolz der Bayern zu tun haben, vermuten die Forscher bei Allensbach. "Es gibt in Deutschland keine andere Region, die so in ihre Mundart verliebt ist." Rekordverdächtige 77 Prozent aller Bayern finden ihre Sprache pfundig, auch das norddeutsche Platt ist bei den Eingeborenen mit 65 Prozent sehr beliebt.
Von einzelnen Städten gibt es keine Erhebungen, die Verfasserin dieser Zeilen ist jedoch aus tiefster Seele überzeugt, dass in Köln mindestens 99 Prozent der Ureinwohner die Frage, wo sich sprachlich der Nabel der Welt befindet, mit einem herzhaften "Jenau hier" beantworten würden. Es ist nicht zuletzt dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein und der Textfestigkeit der Kölner Fußballfans zu verdanken, dass der 1. FC Köln sich wacker in der Bundesliga hält. Wenn die Kölner Kurve die FC-Hymne singt, dann bekommt der Gegner einfach Gänsehaut: "Mer schwöre dir he op Treu un op Iehr: Mer stonn zo dir, FC Kölle. Un mer jon met dir, wenn et sin muss, durch et Füer, halde immer nur zo dir, FC Kölle! (Wir schwören dir auf Treu und Ehre: Wir stehen zu dir, FC Köln. Und wir gehen mit dir, wenn es sein muss, durchs Feuer, halten immer nur zu dir, FC Köln). Erhebend! Vom Karneval sei an dieser Stelle gar nicht erst die Rede. Nur so viel: Eine Stadt, die so viele Lieder hat, kann sprachlich gar nicht untergehen, auch wenn das Kölsche längst nicht mehr beherrschender Alltagsdialekt ist.
Für den Rest der Welt allerdings gilt: Wo der Dialekt nicht mehr benutzt wird, da stirbt er aus. Über den Zeitlauf von 17 Jahren hinweg haben die Forscher von Allensbach eine langsame Erosion des Dialektsprechens festgestellt - besonders in Ostdeutschland. 1991 betonten noch 41 Prozent der Ostdeutschen, "eigentlich immer" Dialekt zu sprechen, heute sagen das nur noch 33 Prozent von sich. Im Westen sank die Zahl derer, die kein Hochdeutsch sprechen, von 28 auf 24 Prozent.
"Die meisten Eltern wollen eben nicht, dass ihre Kinder regionale Merkmale haben, weil sie sie für den globalen Arbeitsmarkt fit machen wollen. Deshalb sprechen sie keinen Dialekt mehr mit ihnen", sagt Schmidt. Aus seiner Sicht ist das durchaus ein Verlust. Schließlich sei der Dialekt ja schon so etwas wie eine erste Fremdsprache. Zudem schaffe das Nebeneinander von Dialekt und Hochdeutsch auch ein Bewusstsein für genuin schriftliche Strukturen. Erst neuerdings sei dieser Trend erst wieder bei den Bildungseliten angekommen: "Und plötzlich gibt es in Norddeutschland wieder Niederdeutschstunden in der Schule."
In Baden-Württemberg arbeiten sie noch an ihrer Zweisprachigkeit. Dort schickt Daimler-Benz seine Manager in Hochdeutschkurse, um ihnen den Weg zur Weltspitze zu ebnen. Denn wie sich das anhört, wenn ein echter Global Player Dialekt spricht, kann man auf YouTube besichtigen: Barack Obamas berühmte Siegessäulen-Rede ist dort als schwäbische Verballhornung zu sehen. Als grantelnder Hauswart ("Was mi echt nervt, isch des Thema Fahrräder abstelle im Hausgang. Bei uns stellt jeder Daggel grad wie's ihm passt sein' Drahtesel in' Hausgang nei, trotz Verbotsschild ...") büßt der amerikanische Präsident doch erheblich an Sex-Appeal ein. Und irgendwie ist das auch genau das, was die Berliner an den zugezogenen Schwaben so nervt: lieber arm, aber sexy, als neureich und spießig.
Das Projekt: www.Regionalsprache.de
Digitaler Wenkeratlas: www.diwa.info