Traunsteiner Tagblatt


»Wir sind auf dem Weg, unsere Seele zu verlieren«

 

Grassau. Nachdenken stand bei der zweiten großen Veranstaltung des Chiemgau-Alpenverbands für Tracht und Sitte im Rahmen des Abschlusses der zweijährigen Reihe unter dem Motto »Tradition und Brauchtum« im Heftersaal im Vordergrund. Dazu leisteten hochrangigen Persönlichkeiten ihre Beiträge, die mit ihrer Meinung zu den Wechselwirkungen von gesellschaftlichen Entwicklungen und Traditionen nicht hinter dem Berg hielten. Besonders deutliche Worte fand Ernst Schusser, Leiter des Volksmusikarchives Bezirk Oberbayern. Aber auch Alois Glück, ehemaliger Landtagspräsident und nun Vorsitzender des Zentralrates der Katholiken, warb für gegenseitiges Verständnis verschiedener Kulturen. Der Erhalt der bairischen Sprache waren zudem Dr. Johannes Grotzky, Hörfunkdirektor des BR wie auch dem Bildhauer Andreas Kuhnlein wichtig.

 

Der Chiemgau Alpenverband mit seinen 23 Vereinen und über 8000 Mitgliedern habe sich der Heimatpflege gewidmet, erklärte Gauvorstand Ludwig Entfellner. Modernität und Heimatbewusstsein seien kein Gegensatz. Der Gauverband habe das Ziel beschrieben, aber nicht den Weg, diesen müsse jede Generation für sich erarbeiten. »Nicht jeder, der einen grünen Hut hat, hat auch eine heimatpflegerische Ader.« Tradition habe nur dann einen Wert, wenn sie den Menschen bereichere. »Haben Tradition und Brauchtum Einfluss auf die Gesellschaft oder sind sie nur Beiwerk, ein Klischee?« stellte Entfellner in den Raum.

Vor 20 Jahren habe er gedacht, man steuere auf eine internationale Einheitskultur hin, betonte Alois Glück. Doch dann kam eine Gegenbewegung, denn die Menschen spürten, dass sie eine eigene Identität brauchen. Glück sprach von Patriotismus im Sinne von Liebe zur eigenen Kultur, einer Wertschätzung, aber auch Respekt vor anderen Kulturen. Kultur habe große Bedeutung für den inneren Zusammenhalt. Die letzten 10 Jahre hätten gezeigt, dass für eine gute Zukunft eine konservative Einstellung wichtig werde: konservativ nicht im Sinne von Konserve, sondern wertkonservativ, Grundwerte im Sinne von Qualität des Zusammenlebens, der Bedeutung der Familie. »Eine erfolgreiche, freie Gesellschaft wird eine traditionsgebundene Gesellschaft sein«, konstatierte er. Wichtig sei bei aller Pflege der eigenen Kultur, auch die Prägung und Werte anderer Kulturen zu schätzen und eine stärkere Verständigung zu suchen.

Mundart im Deutschunterricht?

Die Bedeutung der Rundfunk- und Fernsehprogramme beleuchtete Dr. Johannes Grotzky. Der Bayerische Rundfunk habe täglich sechs Millionen Zuhörer, die Fernsehprogramme lägen an der Spitze der Dritten. Der BR wolle die Vielfalt in Bayern zeigen und pflegen und die regionalen Traditionen gleichberechtigt akzeptieren. Traditionen blieben in der Grundform erhalten, seien aber auch einem Wandel unterworfen. Als Beispiel nannte er den Gottesdienst, der geblieben sei, sich in der Umsetzung aber radikal geändert habe. Regionalität sei eine Hauptsäule aller Programme und diese Regionalisierung habe zu dem großen Erfolg beigetragen. Erstaunlich sei für ihn, dass an den Schulen so wenig Mundart gesprochen werde. Er könne sich vorstellen, dass im Rahmen des Deutschunterrichts auch der Mundart Rechnung getragen werde. Grotzky will aber »keine nostalgische Verklärung, sondern Aufklärung«. Darin, Heimat zu leben und dadurch vielen Menschen eine neue Heimat zu geben, stecke eine ungeheure Integrationskraft.

Der Spruch »zuerst stirbt die Sprache, dann die Kultur«, habe sich bewahrheitet, betonte Andreas Kuhnlein. Dies sei ihm auf den vielen Reisen bewusst geworden, denn in zahlreichen Ländern gebe es keine Dialekte mehr. Die Sprache in einem Europa der Regionen zu erhalten, erachte er als unheimlich wichtig, da die Sprache etwas mit Identität zu tun habe. Die bayerische Kulturlandschaft werde weltweit geschätzt und geliebt, so Kuhnlein. Es tue weh, wenn die Leute ihren wohlangestandenen Dialekt aufgeben. Wenn der Dialekt verschwinde, sei dies ein Offenbarungseid einer Kulturgesellschaft. »Wir haben einen griffigen Dialekt, der Zustände und Empfindungen zum Ausdruck bringt.« Er verstehe nicht, wie man so etwas aufgeben kann.

Traditionelle Volksmusik werde von Generation zu Generation erneuert und sei nichts Verstaubtes, erklärte Ernst Schusser. Es gehe aber die Nähe verloren: »Wo ist die Dorfwirtschaft, der Lebensmittelladen, der Ortspfarrer, die Bahnhöfe und Postämter?« Schulen würden zusammengelegt. Das Recht des Stärkeren nehme immer mehr Platz ein. Früher gab es die Gesellschaftskritik in Lied und Wort. Schusser erinnerte an das »Rügebrauchtum«, das Haberfeldtreiben, mit dem auf Fehlentwicklungen hingewiesen wurde. Auch in der Gegenwart gab es dieses Haberfeldtreiben in Form der Fastenpredigt.

»Volkskultur braucht Freiheit«

Schusser bedauerte, dass die Volksmusik zum Geschäft werde. Er verurteilte die GEMA-Gebühren, nicht nur auf Liedgut, sondern auch auf Noten, als gesetzlich ermöglichte Abzocke. »Volkskultur braucht Freiheit und ein Grundrecht auf freies Singen und Musizieren, sonst verlieren wir die Seele in unserer Volkskultur«, so Schusser. Neue Volksmusik sei primär positiv zu werten, doch neu entstandene Produkte seien nicht zwangsläufig Volksmusik. »Wir sind auf dem Weg unsere Seele zu verlieren.«

Wie Volksmusik frisch und lebendig, dazu auch modern sein kann, das sah nicht nur Ernst Schusser auf der Bühne. Hier sangen sich die Huber-Dirndln aus Wildenwart mit jugendlichen Texten in die Herzen der Besucher und führten auf, was »ma auf am Bauerndorf braucht und dass das Handy de Liab nur stört«. Stimmungsvoll und schwungvoll unterhielten zudem die Hohenaschauer Musikanten.


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